Montag, November 27, 2006

loosizky

Hab ich euch schon mal von der Kathedrale erzählt, an der ich jeden Tag in den Morgenstunden, oder spät nachts vorbeikomme? Sie befindet sich in einem entlegenen Teil der seltsamen Stadt, in der ich zur Zeit lebe. Immer am Weg zur Arbeit gehe ich an den rießigen Pforten, an ihren steil aufragenden, schwarzen Gemäuern vorbei. Das Gebäude hat drei spitz zulaufende Türme, von denen der hintere der höchste ist. Seltsame, mittelalterliche Fratzen schmücken die verschiedenen Dach- und Mauervorsprünge. An den Außenwänden sind die Grabestafeln von Heiligen und Kirchenvätern montiert. Auf rießige Fensterportalen werden verschiedene Bibelszenen dargestellt. In lateinischen Lettern sind Gotteshuldigungen und Sinnsprüche festgehalten. Hinter dem Tor des Kirchenportals lauert eine bedrohliche Dunkelheit.

Meist steht beim Eingang ein zerlumpter Bettler, mit der roten Nase eines Säufers, oder eine alte Frau, die ihren mit einer offenen Wunde entstellten Fuß herzeigt und auf ein paar Münzen hofft.
Besonders jetzt, in der kalten Jahreszeit, wirkt die Kathedrale noch weniger einladend und verwunschener. Die Wolken hängen meist tief über den Dächern der Häuser und eine eigenartige Stille umgibt die ganze Gegend. Nur an manchen Tagen klingen leise Töne der Kirchenorgel aus der Kathedrale hervor. Aber selbst diese Melodien scheinen von Geisterhand in die Welt der Lebenden geschickt worden zu sein.
Es mag seltsam klingen, aber manchmal, da fühle ich mich angezogen von diesem Ort. Ich kann dann nicht direkt nach Hause gehen, wo meine Familie auf mich wartet, sondern biege unweigerlich vom Heimweg ab und husche eilig in das Innere des unheimlichen, schwarzen Gotteshauses.
Innen wird man von einer majestätischen Ruhe empfangen. Die Größe des Gebäudes ist von außen nicht abzuschätzen. Irgendwo im Dunkel über einem verlieren sich die breiten Steinsäulen, die das Dach der Kathedrale seit Jahrtausenden tragen. Weit vor einem, unzählige hölzerne Sitzreihen entfernt, ist der Hochaltar. Das Allerheiligste. Von flackernden Licht zweier Kerzen erhellt. Ein roter Teppich führt ganz nach vorne. In den Säulen und an den Wänden starren einen die Gesichter von Heiligen und Bibelgestalten an. Einige kleinere Altare und Gebetsecken sind mit Kerzenlicht erhellt.
Hinter einer der vielen verschlossenen Türen gibt es einen Weg zu den unterirdischen Höhlen, die auch unter der Wüste zu finden sind. Und ich weiß, dass sie alle miteinander verwoben sind. So wie alles miteinander verwoben ist. Zusammenhängt. Auf die eine oder andere Weise. Aber ich hatte noch nie Zeit, weiter zu suchen. Herauszufinden, wohin die vielen Geheimgänge und die vielen Treppenaufstiege führen. Mir fehlte jedesmal die Zeit. Obwohl ich doch soviel Zeit habe.
Ich verlasse die Kirche meist wieder, ehe ich anfangen kann, die eigentlichen Fragen zu stellen.
Es ist, als existieren diese Fragen in der Kathedrale nicht. Als würde meine Seele Teil einer anderen Seele werden. Es genügt, mit einem geleerten Geist ins Freie zu treten. In der Morgenstunde, in der Nacht. Solange die Tore in die Kathedrale auch geöffnet zu bleiben.

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