Freitag, Dezember 15, 2006

Unterwegs

Ich starrte vor mich hin. In den Kurven rüttelte die Strassenbahn, während die Plastikhalter für die stehenden Gäste im Gleichtakt schaukelten. Draußen klatschten die Regentropfen an die Fensterscheibe. Die Wolken hingen heute tief am Himmel. Ich überlegte mir, wie oft ich schon diesen Weg gefahren bin. Zu oft. Die Straße hinunter, über den Fluß drüber. Umsteigen. Mit der Rolltreppe hinunterfahren. Die U-Bahn nehmen. Die tausenden Gedanken, die mir im Kopf herumgegeistert sind. Alle verloren. Vergessen. Ich weiß sie nicht mehr. Aber, tröstete ich mich, sie waren nicht umsonst. Bloß kleine Bojen, unausgesprochene Bojen im Meer meines Daseins. Das waren die Gedanken.
Zwischen den Regen mischten sich auch ein paar Schneeflocken, schien mir. Endlich wurde es kalt. Ich mochte es, wenn der Winter ins Land kam. Die dunkle Jahreszeit, wenn die Nacht schon am späten Nachmittag anfing, hatte immer schon einen ganz besonderen Zauber auf mich ausgeübt. Die meisten meiner Mitmenschen sahen darin nur die Trübsaal, unter der sie dann litten, oder das Gefühl zu frieren. Aber ich fand, dass sich dann der Blick eher ins Innere der Menschen richtete. Dass dann die Gespenter, die in uns wohnen, die Türen in die Welt leichter aufstossen können, leichter unter uns sind. Manche mögen sie nicht. Und mir machen sie auch manchmal Angst, aber irgendwie mag ich die Zeit und ich mag es, wenn auch die eigenen Geister einmal ihren Platz einnehmen dürfen.
Während mein Blick über die hunderttausenden Häuserwände streifte, vorbei an den kleinen Verkaufsgeschäften, über deren Existenz ich mich immer wieder wunderte und vorbei an den Menschen, die mit hochgestellten Kragen und in Schals verpackt irgendwohin gingen, da versuchte ich ein besonderes Gesicht zu finden. Nicht ausschließlich in ästhetischer Hinsicht, sondern ich menschlicher. Aber es war nicht so leicht. Irgendwann vergaß ich darauf, nachzuschauen. Ich fand kein besonderes Gesicht. Besondere Gesichter tauchen nur selten auf. Die meisten erscheinen zwar besonders, können diesen Schein aber nicht aufrecht erhalten. Wahrscheinlich gibt es generell gar nichts Besonderes. Es ist alles gleich besonders. Also äußerst basisdemokratisch besonders. Also fragte ich mich, was wäre, wenn ich auf ein solch noch nicht näher bekannt besonderes Gesicht treffen würde.
Ich dachte an den gestrigen Abend. Es schien mir, aus irgendeinem Grund, als wäre wahnsinnig viel passiert seitdem. Dabei war das nicht der Fall. Nicht wenn man solche Entwicklungen nach vergangener Zeit und der Anzahl bedeutender Ereignisse misst. Aber es kam mir vor, als wäre ich ein Stück irgendwohin gedriftet. Und das machte mir Angst. Es irritierte mich. Ich hatte keine Erklärung dafür. Es war doch alles wie vorher. Hoffte ich.
Wie hieß die rothaarige Frau nochmal? Ella. Was sie jetzt wohl machte? Eigentlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt existierte. Mir war klar, daß ich sie wiedersehen würde. Aber was wäre, wenn sie tatsächlich nicht existierte? Wenn diese Erscheinung zwischen den jahrtausende Alten Gemäuern der Kathedrale bloß ein Echo war, die Erinnerung, die sich in den Steinen gespeist hatte, oder eine Ahnung von Geschehnissen, die erst passieren würden?
Ich dachte an die Gasse, in der sie wohnte und versuchte alles in meiner Erinnerung zu behalten, um es nicht zu vergessen. Ich dachte an die seltsamen Typen, von denen sie gesprochen hat. Aber ich kammit diesen Überlegungen zu keinem Ende. Wieder einmal.

In der U-Bahn-Station holte mich das Jetzt wieder ein. Also eigentlich die Vergangenheit. Der Bombenanschlag, der aber keine Toten gefordert hatte. Zahlreiche Polizisten patrouillierten bei den Treppen zum U-Bahn-Bereich. Die Kameras zoomten sich von Passant zu Passant. Dazwischen eilten die Menschen hinauf oder hinunter. Jeder versuchte nicht sonderlich verunsichert zu wirken, um die plötzlich latent in der Luft hängende Panik nicht zu verstärken. Aber zugleich schien es jeder eine Spur eiliger als sonst zu haben, um an sein Ziel zu gelangen. Um das Risiko, in der Öffentlichkeit in die Luft gesprengt zu werden zu minimieren, weil es unwahrscheinlich war, dass man im privaten Rahmen oder am Arbeitsplatz in die Luft gesprengt wurde. Viele Augen waren ganz leicht geweitet. Die Blicke tasteten fast schon gehetzt ihre Umgebung ab. Die Kameras kontrollierten alles. Die Polizisten schauten jeden ernst an. Woher kam die Gefahr? Wer wollte sich und, oder Andere in die Luft sprengen. Wie konnte man es verhindern? Wie würde man die Täter nachher, so es ihnen gelingen sollte, fassen können?
Ich wurde selbst unruhig. Mir wurde klar, dass ich auch jeden Moment würde sterben können. Man wusste nicht, was die Bombenleger wollten. Wen sie töten wollten, was ihre Ziele waren. Daher war man einer gewissen Todesgefahr ausgeliefert, die unberechenbar und allgegenwärtig war. So schnell ging das also. Gestern noch normal zu Mittag gegessen, heute in Todesgefahr und ein bißchen von Irgendwo nach Irgendwo abgedriftet. Dabei ist mir in eigentlichen Sinn noch gar nichts passiert. Aber manche Dinge, dachte ich mir beim Einsteigen in die U-Bahn, passieren schon, bevor sie passieren.

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