Samstag, Dezember 02, 2006

Zuhause

Als ich nach Hause kam, beschloss ich die seltsame Begegnung nicht zu erzählen. Es hätte nichts gebracht. Annabell, meine Freundin (wir waren nicht verheiratet), hatte wenig Verständnis für solche Geschichten. Absurditäten und nicht im Alltag beheimatete Geschichten machten ihr Angst glaube ich. Oder sie verachtete es aus einem anderen Grund. Ich kam nie dahinter, nach welchen Kriterien Menschen das Eine für Gut und das Andere für schlecht befinden. Und wie sich die individuellen Zu- und Abneigungen im Kollektiv zu einer hochexplosiven, jeder Vernunft entbehrenden, mordenen Masse werden können.
Es ist natürlich sehr schwierig, die genaue Beschaffenheit unserer Beziehung in wenigen Worten zu schildern. Es wird sich aber noch zeigen, denke ich. Jedenfalls wurde ich gleich von meiner kleinen Tochter begrüßt, die lachend auf mich zulief und hochgehoben werden wollte.
Annabell erinnerte mich, dass ich mir die Hände waschen sollte. Sie hauchte mir einen Kuss auf den Mund und verschwand in die Küche.
Ich tat, wie sie es von mir verlangte und spielte danach mit meiner Tochter. Immer wieder aber hatte ich die Gedanken an diese Begegnung mit der Frau im Hinterkopf. Wahrscheinlich hat man immer etwas im Hinterkopf. Es war wie, wenn man den Geschmack einer intensiven Speise noch lange am Gaumen hat. Und ich erinnerte mich gern an den Geschmack dieser Frau sozusagen. Als kleine, nette Erinnerung.
Ich wurde von Annabell mit strengen Blicken bedacht, da ich etwas spät dran war und sie einen anstrengenden Tag hatte. Und ich war zufällig in der Nähe. Ich war also jemand, den man es spüren lassen konnte. Als Versicherung der eigenen Existenz die Wirkung der eigenen Psyche im Anderen erforschen. Den Schlüssel finden.
Wir unterhielten uns beim Essen über den Tag, die wichtigsten Fortschritte unserer Tochter und andere Kleinigkeiten.
Irgendwann wurde ich gefragt: "War heute irgendwas? Du schaust so...anders aus." Ertappt verneinte ich. Man konnte Annabell einfach nichts vormachen. Sie merkte alles. Aber ich versteifte mich darauf alles abzustreiten - und es gab ja nichts zu verheimlichen. Mit einem ungläubigen Blick erhob sie sich. Schweigend räumten wir den Tisch ab. Dann wurde unsere Tochter ins Bett gebracht. Nach wenigen Minuten war es völlig still im Zimmer geworden. Meistens schlief Annabell im Bett neben dem Kind ein. Ich stellte mich zu dem Fenster im Arbeitszimmer und schaute auf die Dächer der Stadt. Wir hatten nämlich das Glück, eine Wohnung im obersten Stock zu bewohnen. Irgendwo da draußen passierten tausende Geschichten. Tausende Sünden, tausende Ekstasen, tausende Enttäuschungen, tausende Tode. Permanent. Hier herinnen da war es aber ganz still und behütet. Und das Leben in diesem abgeschlossenen Eiland stand ganz im Zeichen unseres Kindes. Im Zeichen einer noch unbeschwerten, unschuldigen Lebensfreude. Hier war es irgendwie rein. Man schlief hier herinnen, man aß, man liebte sich, spielte, tanzte, machte Musik. Es war in gewisser Weise wunderbar, abgesehen von den strengen Charakterzügen Annabells, die in Wellen ausbrachen oder zufrieden schlummerten.
Ich konnte nie genau sagen, in welcher Welt ich eigentlich leben wollte. Wahrscheinlich in keiner der Beiden. Oder in Beiden.
Nach einer Weile bemerkte ich, dass ich auch selber hundemüde war. Außerdem würde ich morgen aufstehen müssen. Arbeiten. In der Informationsindustrie schuften. Ich warf einen Blick in das Schlafzimmer und hörte die Atemgeräusche. Ein Atem war unruhig und schnell, das war der meines Kindes. Der andere war fast nicht zu hören, zurückhaltend, als wollte er den Atem des Kindes nicht stören. Annabell lag im Tiefschlaf und angezogen im Bett. Ich verspürte eine gewisse Erregung und bekam wahnsinnige Lust auf Sex. Ich huschte schnell zu ihr ins Bett und schmiegte mich an sie. Durch meine Küsse lies sie sich schnell in Stimmung bringen und wir schliefen miteinander. Allerdings ganz leise und sanft, da wir das Kind aufwecken sollten.
Ich dankte Gott, dass es so war, wie es war. Und dachte mir, nichts sollte dieses Leben in Gefahr bringen. Als könnte man das Leben einfach abbestellen.

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