Donnerstag, Jänner 18, 2007

Der Orkan

Es war schon spät, als ich mein eigentliches Ziel, die Kathedrale, erreichte. Ein Scheinwerfer warf ein bleiches Licht auf die verwitterten Gemäuer des Gebäudes. In einem der Zimmer hoch oben am Hauptturm brennte ein Licht. Vor dem Portal war bereits das Gittertor aufgezogen. Nur noch durch eine kleine Tür konnte man das Gotteshaus betreten. Ich huschte hinein.
Nachdem ich die schwere Holztür aufgedrückt hatte und im Raum stand, hielt ich zunächst völlig inne. Zunächst fiel mir niemand auf. Erst als ich aus dem Dunkel in den Bereich trat, der vom Licht hunderter flackernder Kerzen beleuchtet wurde, sah ich die regungslose, geradeaus starrende Gestalt des Kirchenhüters. In seiner Hand hielt er einen großen Schlüsselbund. Sein Gesicht war irgendwie seltsam geformt, die Nase war im Vergleich zum Gesicht eher langgezogen. Seine Augen traten weit aus den Augenhöhlen hervor, seine Lippen hatte er hart aufeinander gepresst. Trotz seiner Anwesenheit hatte ich aber nicht das Gefühl irgendwie gestört zu sein. Der Hüter war halt auch da. Mehr nicht.
Die alte Frau, die immer da saß und den Kopf gesenkt hatte und die auch schon seit Wochen tot sein könnte, erblickte ich ebenfalls. Ich zog keinen Moment in Erwägung, dass sie auch gestorben sein könnte. Weit vorne, hinter dem Altar, leuchtete in schwachem Licht die Abbildung einer Heiligengestalt.
Was machte ich hier eigentlich?
In Wahrheit hat mich der Hunger hierher getrieben. Ein unstillbares Gen in mir, das stets das Eintreten des Besonderen erwartet. Aber war nicht schon genug geschehen? Überall sah ich in Abbildungen der Heiligen Jungfrau Maria, und in das Antlitz von Jesus und in das goldene Dreieck, das Gott darstellen sollte. Überall diese gütigen Blicke, die aber tief in mich schauen konnten. So fühlte es sich zumindest an. Sie blickten tief in mein Inneres und bewerteten es aber nicht. Dadurch fühlte ich mich noch elender. Vielleicht war das die Psychologie von Religion. Mir kam der Gedanke an den Alten. Er war schon tot, da war ich mir ziemlich sicher. Und ich war mir auch ziemlich sicher, dass er nicht an diesem Ort herumschwebte. Das würde nicht zu ihm passen. Wahrscheinlich würde der arme Teufel irgendwo im Universum herumschwirren und immer noch nach dem was wir Liebe nennen suchen. Oder nach dem, was er meint, dass Liebe ist. Oder er existierte nicht mehr. Das war auch möglich.
Irgendwann fragte ich mich, ob Ella in der Nähe war. Es fiel mir immer noch schwer, mir klar darüber zu werden, was ich über die Begegnung mit ihr denken sollte. Und ob ich ihre Nähe überhaupt suchen sollte. Ich verließ die Kirche wieder, ohne das Gefühl zu haben, überhaupt in ihr drinnen gewesen zu sein. Mein Kopf war voll mit anderen Dingen.
Draußen zogen bereits die ersten Wolken eines gewaltigen Orkans auf. Die Farben des Himmels waren irreal. In Gelb erstrahlten die Häuser, die um die Kathedrale standen, obwohl es trotzdem Nacht war. Erste Sturmböen rüttelten an Straßenlaternen und Zeitungsständern. Die Atmosphäre war plötzlich sehr energiegeladen. Man konnte förmlich die Spannung spüren, unter der die Luft stand und wie sie am liebsten sofort laut aufjaulen und all ihre Kräfte entfesseln würde. Aber die Gesetze der Physik, oder war es Gottes Wille, erlaubten dies noch nicht. Ich musste mich beeilen nach Hause zu kommen, wenn ich nicht in das Chaos des Orkans geraten wollte. Das Licht im Turm war erloschen. In den Häusern war kein Licht hinter den Fenstern zu sehen. Die wenigen Kaffeehäuser in der Umgebung waren bereits zugesperrt. Niemand würde mir helfen können. Niemand würde mich sterben sehen, niemand würde bemerken, wie ich von einer Windhose ergriffen und davon geschleppt werden würde. Ich würde ganz einfach und einsam verschwinden und Tage später vielleicht eine Zeitungsmeldung oder einen kurzen Internetartikel abgeben. Mehr nicht. Wenn es kommen sollte, dass der Orkan mich erwischen würde. Wenn er mich als Opfer überhaupt wollte.
Rasch ging ich über den weiten Platz vor der Kirche. In Windeseile ballten sich pechschwarze Regenwolken über mir zusammen und der Wind wurde immer hartnäckiger und schien seelenruhig vor sich hin zu pfeifen, als hätte er schon längst entschieden, wen und was er diesmal mitnehmen würde. Über meinen Schultern hatte ich das Gefühl, Gott selbst würde für ein lautes Niesen Atem holen, zumindest einmal ordentlich alles durchfegen wollen. Es war still und laut zugleich. Dann ging es los. Mit einem lauten Krachen, wie eine unsichtbare Flutwelle ungeheuren Ausmaßes, brauste der Orkan durch die Straßen und über mich einher und schubste mich, ohne Widerrede zu dulden, über den Betonboden und die Straße entlang. Es wurde immer heftiger und gefährlicher. Mehrere Male stieß ich mit voller Wucht gegen ein Auto und gegen die Hauswände. Herabfallende Dachteile und umherfliegende Gegenstände verfehlten mich nur knapp. Ich fand mich in der Hölle wieder, jedenfalls an einem Ort, dem eindeutig nichts daran lag, dass ich heil nach Hause kommen sollte.
Irgendwie krallte ich mich irgendwann instinktiv an einem Mauervorsprung fest und schaffte es, mich in eine Nische zu ziehen, in der es einigermaßen windstill war. Allmählich spürte ich die Schmerzen meiner Aufpralle und der Kopf dröhnte mir, als würde ich im Zielfeld mehrerer Wasserstoffbomben stehen.
"Na sowas..." hörte ich eine helle Frauenstimme hinter mir sagen. Ich drehte mich um und sah Ella da stehen, zusammen gekauert in einer Ecke, eingepackt in einen dunklen Wintermantel. Diesmal hatte sie keine roten, sondern schwarze Haare. "So eine Überraschung..." dachte ich mir.

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