Dienstag, Dezember 18, 2012

Darum


Ihre Wohnung war gleich in der Nähe. Man musste über eine breite, alte Wendeltreppe einige Stockwerke gehen. Das Haus war offenbar schon in die Jahre gekommen, ein mattes Licht strahlte von den alten Leuchtkörpern. Der Verputz an den Wänden bröckelte, die Fenster mancher Wohnungen in den Gängen waren zersprungen, die Wohungstüren alt, morsch. Isis - ich konnte nicht aufhören, mich über den Namen zu wundern - schritt immer gleich zwei Stufen nehmend vor mir. Sie dreht sich nicht um und sagte nichts. Offenbar keine besondere Angelegenheit einen fremden Menschen mit nach Hause zu nehmen. Dazwischen musste ich an zuhause denken. Ich sollte nach Hause. Aber konnte es nicht. Als Gefangener der Situation lehnte ich mich innerlich zurück und beobachtete einfach nur. Vor der Tür ihrer Wohnung angekommen schauten wir uns an - eigentlich zum ersten Mal, denn in dem Schneegestöber draußen konnte man von Schauen nicht wirklich sprechen. Sie grinste selbstverständlich. Den Schal hatte sie sich mittlerweile vom Gesicht gezogen. Ihr Gesicht glänzte leicht vom langsam schmelzenden Schnee, einzelne Schneeflocken hielten sich aber wacker auf ihrer Haube.
"So. Da sind wir."
Ich konnte nur dümmlich lächeln und nickte. Offenbar waren keine Spuren meiner Flucht aus dem Bordell zu sehen - sonst hätte sie sicher etwas gesagt.
Sie sperrte auf - die erste Tür seit langem, die sich problemlos öffnen lies.
Drinnen: eine einfach eingerichtete Wohnung. Platz um Schuhe abzustellen, Jacken auf ein Sofa zu werfen, ein Vorzimmer, eine kleine Küche, ein Wohnzimmer, mit einem improvisiertem Bett, also eine Matratze auf einer Holzpalette. Der Geruch von Heu lag in der Luft. Ein Spiegel. Tatsächlich. Ich sah völlig normal aus. Keine Spur einer gewalttätigen Auseinandersetzung. Hatte ich alles nur geträumt?
"Bist eh schön..." sagte sie, ging in die Küche. Meine Blicke folgten ihr. Ihre Hüften schwangen bei jedem Schritt mit. Sie war schlank, wirkte beweglich. Hinter ihrem Wollpullover zeichneten sich ihre Brüste ab, im Profil sah ich ein hübsches, kompaktes Gesicht. Eine attraktive Frau, dachte ich mir. Ich ging ins Wohnzimmer weiter und setzte mich auf einen Stuhl. Auf einem Wäschetrockner hing einiges an Gewand. Auf einem kleinen Schreibtisch stand ein Laptop.
Ich hörte ihre Schritte, sie stellte mir eine Dose Bier hin.
"Ich nehme an, das kannst du jetzt brauchen..." sagte sie und sah mich dabei fragend an. Ihre Lippen hatte sie dabei zu einer Art Kussmund geformt.
"Danke. Absolut."
Ich öffnete die Dose, nahm einen Schluck.
"Woher kommst du?" wollte sie wissen und setzte sich auf das Bett.
"Oh. Ein langer Abend. War was trinken. Offenbar hab ich mich in dem Schnee verlaufen. Und du?"
"War was trinken mit einem Typen. Wollte aber lieber alleine nach Hause gehen."
"Naja. Daraus ist jetzt aber nichts geworden."
"Stimmt."
Schweigen. 
"Und jetzt?"
Ich schaute sie nochmal an. Ihre vollen Lippen waren geschlossen, sie überlegte offenbar. Das Licht fiel vom Gang draußen herein. In dem Halbdunkel war sie nur teilweise zu erkennen. Eine seltsame Situation, die ihr offenbar nicht unangenehm war. Natürlich dachte ich an Sex. Zumindest an die Möglichkeit dazu. Sie vielleicht nicht. Vielleicht aber auch schon.
"Nichts." sagte sie.
Ich erklärte ihr, wo ich eigentlich wohnte und fragte, ob sie die Gasse kennt. Sie nickte. Aber konnte nicht genau sagen, wo dieses Zuhause war.
Sie arbeitete in einem Buchladen erzählte sie. Hatte mit Sprache zu tun, gelegentlich schreiben. Ich erzählte ihr von meiner Arbeit. Dabei ging es vor allem darum, anderen Leuten zu sagen, was sie tun sollten. Konkret: unterschiedliche Ereignisse, die sich in der Welt ereigneten, zu filmen, mit Menschen zu sprechen und das dann in kurze Berichte zu fassen. Das war größtenteils meine Arbeit. Nebenbei musste ich überblicken, was in der Welt eben alles geschah und dann eine Auswahl treffen - welchen Teil der Realität bilden wir ab, welchen nicht. Und dann musste ich mir diese Berichte ansehen und sagen, was gut war und was unter Umständen besser gemacht werden sollte. So verbrachte ich meine Tage. Meine Familie erwähnte ich jetzt mal nicht.
Sie schien das interessant zu finden. Das war ich nicht gewohnt. Ich kannte kaum Menschen, die das, was ich tat, interessant finden, mich eingeschlossen.
Bald war einiges an Zeit vergangen. Isis wurde müde. Ich war es auch.
"Komm her..." sagte sie.
Ich gehorchte, setzte mich neben sie. Sie lächelte mich an. Sie umarmte mich. Ich sie. Ihr weicher Körper schmiegte sich an mich. Mein Herz begann zu klopfen.
"Aber grapsch mich nicht an. Ja?"
Dann löste sie sich von der Umarmung.
"Man soll die Dinge nicht zu schnell angehen." erklärte sie mir. Wenn du willst leg dich zu mir. Ich schlafe jetzt. Dann drehte sie sich um.
Ich überlegte. Was tun? Sie schien sehr rasch eingeschlafen zu sein.
Ich schrieb ihr meine Telefonnummer auf einen Zettel und schrieb ein "Dankeschön" dazu.
Dann verlies ich die Wohnung. Als ich aus dem Haus trat, war der Schneesturm vorbei. Aber es war noch immer tiefste, zeitlose Nacht.

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