Donnerstag, Dezember 13, 2012

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Das Schneegestöber wurde immer dichter. Die Flocken trieben hektisch vor mir her. Ich musste die Augen zusammenkneifen, um etwas zu sehen. Ganz gut, dachte ich mir. So wurden meine Fußsspuren verdeckt. Nach einiger Zeit fühlte ich mich etwas sicherer. Noch war es nicht möglich, zu dem eben Geschehenen einen klaren Gedanken zu fassen. Jedenfalls hatte dieser Tag, seitdem ich auf Ella gestoßen war, eine durchaus eigenartige Entwicklung genommen. Wie sollte ich das alles erklären? Und vor allem wem? Beim Versuch, die Ereignisse in einen logischen Zusammenhang zu setzen, wurde klar, dass es keine Logik gab. Noch nicht.
Bald stellte ich zudem fest, dass ich mich in den vielen Gassen des Viertels verlaufen hatte. Die Häuser und Plätze kamen mir zwar bekannt vor, aber ich fand keine Strasse, bei der ich wusste, wo sie mich hinführen würde. Ich konnte auch nicht abschätzen, wie spät es jetzt war. Es war nicht stockfinster, aber auch nicht wirklich hell. Der Himmel war durch das Schneetreiben nicht zu sehen. Das Licht konnte auch von der Strassenbeleuchtung kommen.
Mein Körper war soweit wenigstens in Ordnung, stellte ich überrascht fest. Das Handgelenk, das bei der verschlossenen Tür in dem Bordell geknackst hatte, schmerzte nicht und war voll bewegungsfähig. Und die Taubheit von dem Schlag in mein Gesicht machte langsam der Wahrnehmung von Kälte und Schnee Platz. Um sicher zu gehen, dass auch in meinem Gesicht und an meiner Kleidung keine Spuren dieser denkwürdigen Nacht hafteten, würde ich aber einen Spiegel brauchen.
Eventuell würde ich dann sogar nach hause gehen können, vor der Wohnungstür schlafen und am nächsten Tag reumütig eine Geschichte von einer spontanen Zechtour mit Arbeitskollegen erzählen. Dann in der Arbeit krank melden, schlafen gehen, aufwachen, Ellas Nummer wegschmeißen, die ganze Sache vergessen und ganz normal weiterleben. In einer Bar ein Bier trinken, auf einen Fernseher starren, einen Urlaub buchen, Steuern zahlen, Weihnachtsgeschenke einkaufen, Hobbys nachgehen, auf ein Sparbuch Geld zur Seite legen. Das übliche Programm.
Jetzt musste ich nur noch den Weg nach Hause finden.
Ich hatte mich aber verlaufen.
Ich kannte die Strassennamen nicht. Ich kannte die Häuser nicht. Kein Taxi weit und breit. Keine Menschenseele. Kein Licht hinter den Fenstern.
Ich ging weiter.
Plötzlich erkannte ich Reste von Spuren im Schnee. Das Profil von Winterschuhen. Keine allzugroße Schuhgröße. Ich folgte der Spur. Immer schneller. Mit großen und immer größeren Schritten. 
Plötzlich eine Gestalt vor mir. Eine Frau. Nicht allzu groß gewachsen. Gut eingepackt in eine Winterjacke, die bis über die Hüften reichte und mit einer dicken Fellmütze am Kopf. Die Schultern hochgezogen zum Schutz vor dem Wind. Ich setzte an: "Entschuldigung..." Sie hörte nicht. Etwas lauter: "Entschuldigung!" Die Frau drehte sich überrascht um. Ein unsicherer Ausdruck stand in ihrem Gesicht. Sie hatte dunkle Augen. Ein Schal bedeckte das Gesicht. Einige, lange dunkle Haare wehten unter der Mütze hervor. War ich ein Irrer? Ich hob beschwichtigend meine Hände. "Hallo...entschuldige...äh...ich suche die nächste U-Bahnstation..." Die Frau zog skeptisch die Augenbrauen hoch. Es war offensichtlich, dass sie mich so schnell wie möglich loswerden wollte. Was ich ihr auch nicht verübeln konnte. "Keine Ahnung." sagte sie und: "Vielleicht in die Richtung..." zeigte gerade aus weiter und wollte weiter gehen.
"Ich hab mich ein bisschen verlaufen in dem Wetter." erklärte ich.
"Blöd." sagte sie.
Etwas an ihr kam mir vertraut vor.
"Wie heisst du?" wollte ich wissen. Lange Pause.
"Isis."
Komischer Name dachte ich mir. Ich sagte ihr meinen Namen.
Dann schaute sie mich lange an - gab mir zu verstehen, dass ihr nicht ganz klar war, was ich von ihr wollte und dass sie gerne weitergehen würde.
Ich dachte mir: Sollte ich Ella anrufen? Vielleicht könnte ich das Telefon der Frau benützen.
"Hast du ein Telefon, das ich benützen darf?" fragte ich.
Verwundert sagte sie ja. Warum sie das tat - ich weiß es nicht.

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