Montag, Juli 14, 2008

Leben der Anderen

Ich sitze da am Ufer des Sees. Türkisgrün und Blau ist das Wasser. Die Körper der schlanken, langen Fische ziehen knapp unter der Wasseroberfläche vorbei. Die Bäume und Schilfwälder bewegen sich langsam im Wind. Vereinzelt werden die Stimmen anderer Menschen zu mir getragen. Mit dem Feldstecher kann man die Gärten der Nachbarn und ihr Strandleben beobachten. Zwischen den dichtgewachsenen Bäumen und dem meterhohen STräuchern und dem Schilf huschen gelegentlich die Körper von Männern und Frauen vorbei. WEit weg. Ich sehe es nur ganz klein. Aber ich kann mein Interesse an ihnen nicht zurückhalten. Sie laden ein zu Phantasien erotischer Abenteuer. Es ist leider das Erste, das mir in den Sinn kommt. Erotische Abenteuer mit Unbekannten, spontaner Sex ohne langwierige Wortwechsel und Beziehungsbezogene Kompliziertheiten. Ich sehe nur die Bilder nackter Körper. Sie sind wie Wasser im Aderwerk meiner sonntaglichen Vorstelllungen, die dahinplätschern wie das Wasser, wie die flinken Fische, die rasch wieder abtauchen im Dunkel des Sees. TAbulose Ehebrüche, Verführungen junger Mädchen und unsittliche Begegnungen - die nicht geschehen. Sie drohen eher, wie die schweren Gewitterwolken, die sich allmählich über mir zusammenbrauen. Wie eine schwere Last zerrt die Lust, zerrt an den Ästen der Bäume und lässt die Wellen schäumen. Richtig laut ist es in mir - an diesem entlegenen Ort. Und außer meinen lauten Gedanken höre ich nur den Wind und das Rauschen der Bäume und das Rascheln vom Schilf.
Eine Frau küsst einen Mann, drückt ihren Körper gegen seinen. An einem Badegrundstück daneben geht ein Mann nackt baden. Ich sehe ein Mädchen, das oben ohne auf einem Gehsteig sitzt und scheinbar etwas liest. Niemand scheint Anteil zu haben an meiner Abgründigkeit, die ich mir im Leben der Anderen hier vorstelle. Niemand ahnt etwas. Niemand.
Da hüpft eine schwarzhaarige junge Frau, ganz nahe bei mir mit einem Kopfsprung ins Wasser. Ihre Augen mustern mich kurz, wenden sich ab. Als könnte sie in mir wie in einem Buch lesen. Oder als hätte sie ähnliche Gedanken wie ich, mehr oder weniger bewusst, aber hat keine Lust, sie irgendwie mehr als Gedanken werden zu lassen. Die Brüste der Frau sind vom Bikini verdeckt, alles glänzt und glitzert vom Wasser in der Sonne, ihre Lippen sind voll und rot. Soviel sehe ich in der Kürze, ohne mich verdächtig zu machen.
Es bleibt alles wie es ist. Der Wind weht mir um die Ohren, das Wasser kräuselt sich. Lauter und stiller als zuvor bleibe ich hier sitzen. Nicht dass in der Umsetzung derartige Phantasien diese Süße und Vollkommenheit behalten würden, die sie in ihrer schieren Möglichkeit besitzen. BLoß vor meinem inneren Auge denke ich mir all das aus. Denn in Wahrheit würde ich es nie wagen, so ein moralloser Strolch zu sein, wie in meinen Gedanken.
In der Ferne thront mächtig, wie ein schlafender Riese, eine Hügelkette, deren Spitze schon von dunkelgrauen Regenwolken eingehüllt wird. Die Sonne verblasst allmählich hinter einem hoch über mir aufgerollten Wolkenband, dessen Anfang und Ende sich im Himmel irgendwo verliert.
Ein spitzes Fischgesicht durchbricht die auf den kleinen Wellen hüpfenden und verzerrten Spiegelungen der Bäume und des Himmels.
Das Leben der Anderen passiert hier, nimmt vor mir seinen Lauf. Ich bin der schweigende Beobachter, ich höre den leisen Erzählungen vom Fremden zu.
Unwirklich erscheine ich mir selbst, irreal, wie die meisten meiner Phantasien. Rätselhaft bin ich mir und mir die Welt der Anderen. Leben, denke ich mir, als ich meine Familie auf der Wiese hinter mir sehe, mit einem Ball spielend und lachend, ist eine reichhaltige Fülle an Dingen, Momenten, Eindrücken und vielen Möglichkeiten.

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