Sonntag, Jänner 07, 2007

Der sterbende Alte

Zwischen den Morgenstunden und dem späten Nachmittag lebe ich normalerweise in einer Art seltsamen Loch. Nicht im physischen Sinn, sondern gemeint ist ein Zustand der Ereignislosigkeit. Meistens passierte nichts zwischenmenschlich Erwähnenswertes. Die Tagesstunden waren angefüllt mit mehr oder weniger mechanischen Tätigkeiten, die kurz unterbrochen wurden von diversen Gesprächen mit anderen Menschen, die aber meist ohne Nachgeschmack verklangen.
Daher werde ich keine unnötigen Worte darüber verlieren. Oder wenn, dann zu einem anderen Zeitpunkt.
Ich verlies das Gebäude in den späten Abendstunden. Wenn man von der Straße hinaufblickte, konnte man hinter den rießigen Fensterscheiben die Neonröhren sehen, die von der Decke strahlten und die futuristisch anmutende Atmosphäre in den Räumen erahnen.
Eine kräftige Windbö blies mir ins Gesicht und trieb mich weiter. Voran, dachte ich mir. Weiter. Irgendwohin.
Irgendwohin war für mich die Kathedrale. Irgendwohin war auch Ella. Und die Geschehnisse an diesem Ort. Und es war auch Annabell und unsere Tochter. Mehrere Ziele in unklarer Reihenfolge in meinem Kopf aufgereiht.
Ich ging bald eine kleine Gasse entlang. Eine der über mir hängenden Laternen flackerte nervös. Ein paar Autos waren geparkt und der Wind trieb altes Laub, Plastickbecher und Zeitungspapier vor sich her. Zuerst hätte ich den alten Mann gar nicht bemerkt, der sich mit schweren Schritten eine vollgesprayte Hauswand auf der gegenüberliegenden Strassenseite entlangschleppte. Aber irgendwann war sein schwerer Atem nicht mehr zu überhören. Er ging gebückt, stützte sich an der Mauer ab und hustete schwer.
Ich zögerte kurz, wollte meinen Weg nach Irgendwohin nicht unterbrechen. Aber der Anblick des Alten war erbärmlich. Plötzlich verstummte er völlig, verfiel in eine starre Körperhaltung und schloß seine Augen. Ich näherte mich ihm vorsichtig.
"Komm her...komm her..." zischte er leise und schwach. Er konnte mich nicht gesehen haben, aber vielleicht hatte er auch gar nicht mich gemeint. Ich blickte mich um. Wenn ich weitergehen würde, würde er vielleicht während der nächsten Schritte verrecken. Niemand würde ihn finden. Oder wenn, dann erst in Stunden.
"Brauchen sie Hilfe?" fragte ich unbeholfen.
Er schüttelte den Kopf und ergriff ohne mich anzusehen meine Schulter.
Der Alte war weiß wie der Mond. Fast schon strahlte er überirdisch. Der Tod war in seinem Körper erwacht.
Als wäre meine Anwesenheit das, worauf er gewartet hat, lies er sich langsam zu Boden sinken.
"Ich hole Hilfe..." versuchte ich ihm zu erklären. Aber er schüttelte den Kopf. Dann schaute er mich endlich an. In seinen Augen lag noch die Kraft eines wachen Geistes, aber das Licht in ihnen wurde schon schnell schwächer. Sein Gesicht war faltig, seine Lippen schmal, leicht verzogen.
"Nein. Ich bin in meinem Leben soweit gegangen. Für diesen letzten Weg geh ich nirgendwo mehr hin." Da war ich also in meinem Irgendwo - bei einem Sterbenden.
"Leisten sie mir doch Gesellschaft. Es wird nicht lange brauchen." sagte er weiter. Folgsam hockte ich mich neben ihn auf den Boden. Mit war plötzlich nicht mehr kalt, ich spürte den Wind nicht mehr, ich fühlte mich, als stünde ich am Scheideweg zwischen zwei Welten. Aber ich konnte mich weder vor noch zurückbewegen.
"Es ist aus mit mir."
Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Mein Kopf war plötzlich so leer. Es gab nichts zu sagen, oder zu fragen. Es gab nur das Jetzt, ohne Gedanken.
"Haben sie schon einmal geliebt?" fragte er. Ich nickte.
"Ich habe noch nie geliebt." sagte er mit einer schwachen Stimme, "Ich habe begehrt, erobert, verlassen und betrogen, getrauert und gehasst. Aber der Liebe bin ich nicht nähergekommen."
"Aber all das ist doch Teil der Liebe..." sagte ich.
"Nein. Das sind ihre niederen Erscheinungsformen. Aber das ist nicht lieben. Das wird mir fehlen. Wie ist das bei dir, Junge?"
Wie war das bei mir? Ich zuckte mit den Achseln. Liebte ich?
"Wenn du´s mir beantworten kannst, vielleicht bleib ich dann am Leben..." flüsterte der Sterbende.
"Ich weiß nicht...ob ich je geliebt habe. Ich habe jedenfalls jede Menge Probleme wegen Frauen gehabt. Aber ich glaube, ich habe schon geliebt."
"Aber wenn due jetzt, in den nächsten Sekunden sterben würdest, würdest du dann auch sagen, dass du geliebt hast? Deine Liebe gelebt hast? Alles weißt und gehen kannst?"
"Nein," sagte ich verunsichert, "das glaube ich nicht."
Der Alte nahm meine Hand. Sie war bereits ganz kalt. Er funkelte mir in die Augen, als wäre er zornig, wegen der ausgebliebenen Antwort, wegen seinem Tod, ich wusste es nicht.
"Dann schau, dass du es rausfindest. Oder verrecke für immer in der Hölle. Denn ich weiß es auch nicht." Er lockerte den Griff um mein Handgelenk. "Und hör auf, so sinnlos durch die Welt zu rennen. Dafür ist sie zu einmalig."
Er schloß wieder seine Augen. Hustete und war noch bleicher, als zuvor.
"Und jetzt hau ab." sagte er. "Ich will alleine sterben."
Ich blickte den Alten entgeistert an, stand auf und suchte nach irgendeinem sinnvollen Satz in meinem leeren Kopf. Aber da war nichts. "Auf Wiedersehen..." sagte ich dem Sterbenden meiner Unbeholfenheit und verfluchte mich dafür. er machte noch irgendein Geräusch, vielleicht war es auch ein Kichern. Ich wollte es nicht wissen und verlies diesen schaurigen Ort.

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