Dienstag, Mai 08, 2007

Ein Fetzen von Erinnerung

Da gab es Fetzen von Erinnerungen. Flüchtige Gerüche, eher Blitze ganz tief unter der Schwelle des Bewusstseins. So ein Kräuseln auf der spiegelglatten Oberfläche des Meeres. Und man konnte einen Blick hinunterwerfen. In eine Art Nichts. In einen Korridor einer aus den Fugen geratenen Welt. In das Gebälk und die metallische Konstruktion einer immerzu grinsenden Weltfratze, die mit unablässlich auf uns herabsausenden Sensenklingen eine satte Ernte einfuhr, geköpfte Körper und in Blut getränkte Weizenfelder auf der obersten Schicht einer Leinwand hinkleckste. Sie lies die Bilder und Gesichter vergangener Zeiten und geschlagener Schlachten einfach so erstehen. Sie lies die Millionen sinnlos Gestorbener nocheinmal leben. In einer Art Gefühl, das einen einfach so erfassen konnte. Wie die vagen Konturen von Langstrecken-Jets auf den strahlend weißen, blendenden Wolkendecken, die ganz plötzlich ganz nahe springen konnten und dann aber wieder kilometerweit weg waren. Auf einer trügerischen Erhebung im Nichts, wollte man hinspringen - die Wolken würden ohne besondere Reaktion zur Seite weichen, dich durchlassen. Du würdest tausende Meter tief hinunterfallen und egal ob dann unter dir Wasser, Erde, Eis, Feuer oder Sand liegen würden, der Aufprall würde dich zerfetzen.
Nichts würde übrig bleiben, außer einem roten, gräßlichem Fleck. Ein unrühmliches Ende.

Da gab es also diese Erinnerungen. Da gab es also die Fetzen von Erinnerung. Und sie stiegen in mir empor, wie die Flut es im kleinsten Meer täglich tut. In diesen Momenten, wenn die Wahrnehmung gesteigert ist, die Tautropfen auf den Blättern eines morgendlichen Waldes sich im Sonnenlicht spiegeln, die ersten zarten Sonnenstrahlen vom aufsteigenden Nebel und dem Adergeflecht der Laubbäume in die einzelnen Stimm-Fasern gebrochen werden, oder ein verschüchterter Feuersalamander über die feuchten Wurzeln kriecht, dann können sie jederzeit kommen. Falls ihr versteht, was ich meine. Genauso können jederzeit die Momente im Leben kommen. Wie Tore, wie elektrische Glastüren, bei denen man nicht bemerkt, wenn man durch sie hindurch geschritten ist.
Es ist eine Art bekiffte Autofahrt durchs Leben.
Du weißt nie, was wirklich passiert. Man erkennt die Dinge meistens erst im Nachhinein, nicht wahr?
Du kannst dich nur an dir selbst festhalten. Wenn die Fetzen von Erinnerung dir um die Ohren wirbeln. Wenn der Chor an monotonen Stimmen dir einflüstert, was deine Gegenwart ist. Wenn dieser Chor langsam anschwillt zu einer ultradramatischen Wagner-Symphonie, die er im Fiebewahn auf einem Synthesizer hinkomponiert hat - wenn dein ganzes Leben und die Fetzen der Erinnerung zum ultimativen Orkan deiner selbst anstimmen und du wie ein Holzschiffchen in der Frühjahrsbrandung des entfesselten Atlantik dahintaumelst in deinem bescheidenem, aber fröhlichen - weil nichts erkennenden - Rhytmus, dann kannst du getrost deine Augen wieder öffnen und die Arme ausstrecken und den Geruch aus deiner Kindheit riechen, die Geräusche deines Kindheitshauses hören und wenn du willst auch deine Zukunft und die der gesamten Menschheit im Vorhinein schauen. Nichts wird dich je erschüttern, falls du verstehts was ich meine.

Das sagte Ella zu mir. Etwas in der Art. Sie sagte es aber nicht banal verbal. Das Gespräch fand an einem anderen Ort statt. Es war ein Austausch der Ideen. Danach schwieg sie. Es gab nichts mehr zu sagen. Ich brauchte sehr lange, um all das niederzuschreiben. Ich war mir auch lange nicht sicher, ob ich den Weg zurück in die normale Welt schaffen würde. Und ich traue meinem aktuellen Jetzt auch immer noch nicht. Ich tappe immer noch vorsichtig und mißtrauisch auf dem Glatteis der Realität dahin und rechne jeden Moment mit dem Erdspalt, der mich hinabreißt. Oder noch schlimmer, aus dem heraus all die Andersartigkeit von Ellas Welt herausströmen könnte. Ich traue dem Schreiben nicht. Ich weiß nicht, ob es gefährlich für mich ist. Ich weiß es einfach nicht.
Ella gab mir danach einen Kuss. Ihr Körper war ganz leicht und fühlte sich ganz zerbrechlich an. Der Kuss fühlte sich an, als würden erst dadurch unser beider Herzen vollkommen aufgesperrt werden. Aus ihren beengenden körperlichen Umfassungen befreit werden. Und dennoch spürte ich auf jeder Pore meines Körpers, wo sie mich berührte und wo nicht, wie sie mit jeder Faser bebte, gegen mich drängte und vor mir zurückwich. Ich kann es nur so beschreiben.
Irgendwann kamen wir wieder in ihre Straße, wo sie wohnte. Nicht weit weg von der Kathedrale. Hinter den Fenstern der Häuser glaubt ich jetzt diese seltsamen Typen, von denen sie mir immer erzählte, zu erkennen. Mir war, als würden sie grinsen. Sie meinte, ich sollte mit ihr mitkommen. Aber das konnte ich nicht. Ich musste nach Hause. Jemand wartete dort auf mich.
Sie lächelte mir zu, ehe sie die Tür zu ihrem Haus verschloss.
Als ich mich umdrehte, hörte ich Schritte, konnte aber niemanden sehen. Plötzich trat eine rießengroße Gestalt auf mich zu. Es war finster, ich konnte das Gesicht nicht erkennen. Plötzlich begann eines der eiskalten Augen im Mondeslicht aufzublitzen.

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